Sie wird die Nachbarin von Ramat Gan. Hannah Arendt, Journalistin, Schriftstellerin, Philosophin und Politikwissenschaftlerin, Jüdin. Streitbare Denkerin und resolute Intellektuelle. Wenn im Weinheimer Baugebiet „Westlich Hauptbahnhof“ die Straßen benannt werden, wird eine davon den Namen der israelischen Partnerstadt Ramat Gan tragen; die andere wird Hannah-Arendt-Straße heißen. Es ist ein Signal des nachdenklichen Umgangs mit der deutschen Geschichte. Am Standort der früheren „Kreispflege“ wird ein mahnendes Kunstwerk daran erinnern, dass die Nationalsozialisten an dieser Stelle eine „Euthanasie-Anstalt“ betrieben haben. Es wird ein Quartier der Erinnerungskultur.
„Eine hervorragende Entscheidung des Gemeinderates“, so Weinheims Oberbürgermeister Manuel Just, sei diese Namensvergabe gewesen. Bürgermeister Dr. Torsten Fetzner betonte, wie groß die Einmütigkeit in der Kommunalpolitik am Ende war.

Wie Hannah Arendt als Denkerin und Schreiberin war, ist nachzulesen. Primär und sekundär. Wie sie gelebt und gefühlt, das wissen jetzt zumindest die rund 80 Zuhörerinnen und Zuhörer eines Vortrages, der am Dienstag im Alten Rathaus zu hören war: Dr. Edna Brocke, selbst Judaistin und Politikwissenschaftlerin, mehrfach für Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit Antisemitismus ausgezeichnet, Großnichte Hannah Arendts, erzählte auf Einladung des Freundeskreises Weinheim-Ramat Gan und der Stadt aus dem Leben ihrer Vorfahrin. Die Referentin ist eine gute Freundin der Familie Lohrbächer. Partnerschaftsbegründer Albrecht Lohrbächer bedankte sich in seiner Begrüßung für „den Freundesdienst, den wir in Weinheim ganz hoch schätzen“. Edna Brocke, 1943 geboren in Jerusalem, wohin ihre Elternaus dem Nazi-Deutschland geflüchtet waren, lebt heute in Krefeld.

Hannah Arendt stehe dafür, so Albrecht Lohrbächer, „dass Naivität im Umgang mit unserer Nazi-Geschichte völlig unangebracht ist – und das bleibend“. Wie aber war diese Hannah Arendt, die 1906 in Königsberg geboren wurde, in den 30er-Jahren zunächst nach Paris emigrierte, erst nach dem Krieg in die USA, wo sie 1975 starb? Mit dem Begriff der „Banalität des Bösen“ hat sie ein geflügeltes Wort geprägt, wurde damit missverstanden und kritisiert. Es war der Untertitel des Buches „Eichmann in Jerusalem“, in dem Hannah Arendt ihre Reportagen und Essays zusammenfasste, die sie über den Eichmann-Prozess verfasst hat. 1961 wurde Adolf Eichmann, Hitlers Organisator der „Endlösung“ in Jerusalem vor Gericht gestellt und verurteilt. Hannah Arendt berichtete darüber für den „New Yorker“. Das Buch und ihre Einschätzungen hat die Geschichtsschreibung geprägt.

Edna Brocke hat ihre Großtante damals als junge Studentin ein paar Mal begleitet; sie kannte sie als resolute Frau (nie ohne Zigarette), die „Fröschlein“ zu ihr sagte. Über die „Banalität des Bösen“ entbrannte vor allem in Israel eine kontroverse Debatte. Man warf ihr Verharmlosung vor, weil sie den Nazi-Mörder „nicht als blutrünstigen Teufel“ (Brocke) darstellte, sondern als „erschreckend normal“, als „gewissenlosen Bürokraten“. Aber sie wollte nicht bagatellisieren, sondern darstellen, wie weit und warum der Judenhass die deutsche Gesellschaft durchdrungen hatte. „Ihre Analyse war ein politisches Statement“, erklärte ihre Großnichte.

Aber: „Die Kontroverse über ihr Buch hat ihr Leben verkürzt“, sagt sie. In Israel war sie als vielleicht klügste Analystin des nationalsozialistischen Antisemitismus zeitweise eine „persona non grata“ und sei heute noch ein „Stein des Anstoßes“. Die Jüngeren, seufzt Edna Brocke, „wissen meistens nicht mehr, wer sie war“. Übrigens, auch der Oberbürgermeister von Hannover, habe in den 80er-Jahren nicht gewusst, wer Hannah Arendt war, berichtete ihre Großnichte. Damals hätte dort eine Straße nach ihr benannt werden sollen.

„Im Vorfeld der beiden Straßen-Benennungen – herzlichen Dank dafür, dass ich Hannah Arendt aus meiner persönlichen Kenntnis und Nähe kurz beschreiben durfte“, so schrieb sie nach ihrem Vortrag ins Goldene Buch der Stadt. Bürgermeister Dr. Torsten Fetzner umrahmte die Veranstaltung mit zwei Liedern, die er selbst geschrieben hat, tief bewegt nach einem Besuch im Konzentrationslager Gurs in Südfrankreich. Dorthin wurden die Weinheimer Juden deportiert. Das ist 80 Jahre her. Weinheim ist nicht Hannover.

Pressemitteilung der Stadt Weinheim, 30. Juni 2022

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