„Und fernerhin Zigeuner zeigen an, es sei um Ordnung in dem Reich getan, sind räuberisch, entführen oft zum Scherz, Wahrsagerinnen, Menschen, Geist und Herz.“ Johann Wolfgang Goethe war sicher ein gebildeter und weltoffener Mann. Vorurteile hatte er dennoch, als er dieses Gedicht im Jahr 1815 verfasste. Die „Zigeuner“, sie eignen sich offensichtlich ganz besonders gut dafür, in Klischees und Stereotypen gepresst zu werden. Selbst in der Kultur, in der man gemeinhin nachdenkt und feinsinnig sein sollte. Der „Zigeunerbaron“ war eine der erfolgreichsten Operetten des 19. Jahrhunderts, Esmeralda aus dem „Glöckner von Notre Dame“ entsprach ebenso dem Vorurteil eines auschweifenden und geheimnisvollen Prachtweibs wie die Opernfigur der Carmen. Selbst die deutsche Folksängerin Alexandra, Ikone der Friedensbewegung, sang in Ilja Richters „Disco“ vom „Zigeunerjungen“.

Von solchen Stereotypen, aus denen Rassismus, Verachtung und Ausgrenzung folgt, handelt eine Ausstellung, die Weinheims Oberbürgermeister Manuel Just am Sonntag im Saal der Weinheimer Stadtbibliothek eröffnet hat. Sie trägt den Titel „Typisch Zigeuner, Mythos und Lebenswirklichkeiten“ und wurde vom Stadtjugendring nach Weinheim geholt. Zu den Öffnungszeiten der Bücherei ist sie noch bis einschließlich 25. März zu sehen – sie ist Teil der Internationalen Wochen gegen den Rassismus.

Es sei schwerer, eine vorgefasste Meinung zu zerstören als ein Atom – so verwies Jovica Arvanitelli am Sonntag in der Bücherei auf ein Einstein-Zitat. Auf die Sinti und Roma trifft diese Einschätzung zu. Auf über einem Dutzend von Schautafeln zeigt die Ausstellung, welches Bild von den so genannten „Zigeunern“ bis heute in der Gesellschaft vorherrscht. 

Ob in Hollywood (Charly Chaplin hatte Roma-Wurzeln, ebenso Yul Brynner) oder im Schlagergeschäft (Marianne Rosenberg) – die Vergangenheit wurde eher verschwiegen. Hingegen tauchten die „Zigeuner“ als Geigenspieler, Wahrsagerinnen, romantische Frauenhelden und in meistens verschlagene Typen immer wieder als Sterotype in der Literatur auf. Ein „Zigeunerschnitzel“ zu essen (und es auch so zu nennen) war bis vor wenigen Jahren gedankenlos möglich. Erst vor zwei Jahren benannte der Lebensmittelhersteller Knorr seine „Zigeunersauce“ in „Paprikasauce“ um.

Das war scheinbar banal, diskriminierte aber eine ganze Bevölkerungsgruppe: die Sinti und Roma, die nämlich in ihrer Geschichte immer wieder ausgegrenzt, verfolgt und wegen ihrer Herkunft ermordet wurden – am schlimmsten in der Zeit des Nationalsozialismus und des staatlichen Rassenwahns in Deutschland.

„Rassismus kommt eben oft unter einem Deckmantel daher“, erklärte Weinheims Oberbürgerbürgermeister Manuel Just bei der Eröffnung. „Antiziganismus ist in der deutschen Gesellschaft historisch verwurzelt und zugleich die Ursache für die soziale Ausgrenzung von Sinti und Roma in Deutschland“, bestätigte er. Schon die Unbedarftheit und Achtlosigkeit im Umgang mit Rassismus könne Verletztheit auslösen, so der OB. Und: „Rassismus ist das, was beim Gegenüber ankommt.“

Just bedankte sich bei Jovica Arvanitelli für die Konzeption der Ausstellung und beim Stadtjugendring, vor allem bei Geschäftsführer Martin Wetzel und seinem Mitarbeiter Nico Gaber, für den Einsatz, das Thema in Weinheim zu platzieren. Seit vier Jahren hat die Jugend-Dachorganisation das Thema Rassismus und dessen Gefahren für die Demokratie besonders im Blick. Martin Wetzel erklärte diesen Fokus aus der historischen Verantwortung des Stadtjugendrings, der – wie gleichgelagerte Organisationen – nach Krieg und Nazi-Regime gegründet worden war, um die Demokratisierung der Jugend in den Gesellschaften zu fördern. „Und Demokratie im Großen funktioniert nur, wenn sie an der Basis in den Kommunen funktioniert“, betonte Wetzel.

Jovica Arvanitelli zeichnete die Geschichte der Sinti und Roma in Europa nach, erklärte die Herkunft und die Lebensweise, die sich wiederum aus der Geschichte heraus entwickelt hat. Denn die wandernden Völker Südosteuropas reisten, weil sie auf der Flucht waren. Und sie nahmen Tagelöhner-Beschäftigungen an, weil sie als nicht sesshafte Menschen nicht arbeiten durften. Daraus entstanden ist eine bis heute ausgegrenzte und oft diskriminierte ethnische Minderheit, deren Integrationsvoraussetzungen sich weiter verschlechtern; nur jedes zweite Kind hat zum Beispiel einen Schulabschluss. Mythen und Lebenswirklichkeiten auseinanderzuhalten, dazu dient diese lehrreiche, schonungslose und doch auf ihre Art auch unterhaltsame Ausstellung noch bis zum Freitag, 25. März.

Der Stadtjugendring zeigt im Rahmen der Wochen gegen Rassismus zum selben Thema noch eine Filmmatinee im Kino „Modernes Theater“ am Sonntag, 20. März, 11 Uhr. Gezeigt wird der Film “Zigeuner? Mythos und Wirklichkeit“.

Pressemitteilung der Stadt Weinheim, 14. März 2022

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